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Tarif: Gegengewicht
Tarifautonomie braucht starke Gewerkschaften

Inhalt

  • Vorwort

  • Überblick: Warum es den § AFG 116 gibt, warum er korrigiert werden muß

  • Rückblick: § 116 AFG - die Reaktion auf einen erfolgreichen Streik

  • Standpunkt: 10 Gründe für die Reform des Paragraphen 116 AFG

  • Disput: 7 Arbeitgeber-Behauptungen auf dem Prüfstand

  • Ausblick: Auf dem Weg, den Paragraphen 116 AFG wieder zu ändern

  • Mini-Lexikon

Vorwort

Nach der Tarifrunde im Frühjahr des Jahres 1999 haben die Metall-Arbeitgeber mehrfach behauptet, die Verhandlungsergebnisse seien „erpreßt“ worden. Diese angebliche Opferrolle soll die Begleitmusik liefern, um das Arbeitskampfrecht noch weiter zu Lasten der Gewerkschaften einzuschränken. Und um die Tarifverträge zu einem Muster ohne Wert zu deklarieren.

Beides wird die IG Metall nicht hinnehmen. Sie setzt sich sachlich und argumentativ mit dieser Kampagne der Arbeitgeber auseinander.

Die IG Metall wird für ein uneingeschränktes Streikrecht kämpfen. Dieses Streikrecht gehört zur Tarifautonomie wie die Luft zum Atmen. Es ist im Grundgesetz verankert, also ein Verfassungsrecht. Mehr noch: Wer an der Koalitionsfreiheit und an der Tarifautonomie die Hand anlegt, rüttelt an den Fundamenten unserer demokratischen Gesellschaft.

Schon im nächsten Jahr geht es um eine Nagelprobe: Denn die IG Metall erwartet, daß die rot-grüne Bundesregierung ihr Versprechen einhält und den Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz (heute: Paragraph 146 Sozialgesetzbuch III) ändert. Sie steht im Wort, das Arbeitskampfrecht wieder ins Lot zu bringen.

Die Bundesregierung darf sich nicht beirren lassen. Die Arbeitgeber gaukeln ihre Schwäche bloß vor.

Auch nicht akzeptabel ist, daß die Arbeitgeber den Flächentarifvertrag schlecht reden. Der Flächentarifvertrag ist modern, weil er den tarifgebundenen Arbeitgebern ein hohes Maß an Verläßlichkeit und Arbeitsfrieden sichert.

Klaus Zwickel
1. Vorsitzender
der IG Metall

Unser Land – mit komplexen und verketteten Industriebeziehungen – braucht ein stabiles Tarifsystem. Eine Vielzahl von Firmentarifverträgen mit unterschiedlichen Laufzeiten kann zahlreiche kleine Konflikte heraufbeschwören. Kleine Konflikte mit großen ökonomischen Risiken.

Das deutsche Tarifsystem hat sich bewährt. Es hat entscheidend zum wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik beigetragen. Die IG Metall will dieses System erhalten und weiterentwickeln. Dafür braucht sie zwei Voraussetzungen: die Rücknahme des Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) und zuverlässige Vertragspartner bei den Arbeitgebern.

Jürgen Peters
2. Vorsitzender
der IG Metall

Überblick: Warum es den § AFG 116 gibt, warum er korrigiert werden muß

Ein erfolgreicher Streik der IG Metall 1984 war der Anlaß für die Bundesregierung von CDU/CSU und FDP, den Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz* zu ändern. Damals ist das Tabu der Arbeitgeber – die 40-Stunden-Woche – durchbrochen worden. Wenn streik- und aussperrungsbedingte Produktionsausfälle dazu beitragen, daß in einem nichtumkämpften Tarifgebiet die Arbeit ebenfalls ruhen muß, bekommen dort kalt Ausgesperrte seit 1986 kein Kurzarbeitergeld mehr.

„Dieses Gesetz ist verfassungsrechtlich höchst bedenklich, weil es voraussetzt, daß die IG Metall beweist, daß sie nicht mehr streikfähig ist. Das halte ich für unzumutbar. (...)
Die neue Koalition will die »Chancengleichheit der Tarifvertragsparteien sichern«. Die Gewerkschaften müssen künftig wieder frei entscheiden können, wie sie einen Streik führen wollen. Das können sie heute nicht. Das halte ich persönlich für einen verfassungswidrigen Zustand.“

Ulrich Zachert, Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Politik, Hamburg

Der Hintergedanke: Zahlt die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg kein Kurzarbeitergeld mehr, sollen die aufgrund von Produktionsausfällen kalt ausgesperrten Beschäftigten – es können mehrere hunderttausend sein – mittellos dastehen. Und sich womöglich an die IG Metall wenden, um Unterstützungsleistungen einzufordern.

Die Gewerkschaft wäre gezwungen, den Streik abzubrechen (siehe hier). Mittellose sollten so einen gewerkschaftlichen Kampf brechen. Eine Politik mit der Not der Menschen.

Uneingeschränktes Streikrecht herstellen

Mit dem Paragraphen 116 AFG sollte verhindert werden, daß es nochmals zu einem Streik kommen könnte, wie ihn die IG Metall 1984 geführt hatte.

* Jetzt ist es der Paragraph 146 SGB III; in diesem Text bleibt es durchgängig beim Paragraphen 116 AFG.

Die Verfassungsbeschwerde der IG Metall – eingereicht im Mai 1986 – lehnte das Bundesverfassungsgericht neun Jahre später ab. Der Paragraph 116 AFG sei „noch“ nicht verfassungswidrig.

1995 hatte die SPD-Bundestagsfraktion keinen Erfolg damit, das Gesetz wieder zu ändern. Von den jetzigen Regierungsparteien erwartet die IG Metall eine entsprechende Gesetzesinitiative im Jahre 2000. Sie soll das uneingeschränkte Streikrecht wieder herstellen.

Tarifverhandlungen und Streikandrohung

Tarifverhandlungen führen die Gewerkschaften nur dann wirkungsvoll, wenn sie mit einem Streik drohen können. Deshalb ist das Streikrecht auch im Grundgesetz verankert. Im übrigen Europa und in allen anderen zivilisierten Ländern dieser Welt ist die Rechtslage nicht anders. Zahlreiche internationale Konventionen sichern das Streikrecht ebenfalls ab. Die Bundesrepublik Deutschland ist also kein rechtlicher Sonderfall. Das Bundesarbeitsgericht argumentiert auch auf dieser Linie:

  • „Tarifverträge kommen nur zustande, wenn sie gegebenenfalls von den Gewerkschaften mit den Mitteln eines Arbeitskampfes erzwungen werden können...

  • ...Sie (die Gewerkschaften) wollen in der Regel eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder erreichen. Andererseits kann sich die Arbeitgeberseite auf die Ablehnung einer Vereinbarung beschränken...

  • ...Bei diesem Interessengegensatz wären Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik nicht mehr als kollektives Betteln.“

BAG-Urteil 1 AZR 342/83 vom 12.9.1984

Fernwirkungen vermeiden

Das Bundesverfassungsgericht, die Arbeitgeber und das konservative Lager nehmen insbesondere den Streik der IG Metall 1995 in Bayern zum Anlaß, um zu behaupten, daß sich die Gewerkschaft trotz des Paragraphen 116 behaupten kann. Die IG Metall hat in diesem Arbeitskampf einen vernünftigen Kompromiß durchgesetzt. Sie war aber zu einer Streiktaktik gezwungen, die Produktionsausfälle – Fernwirkungen – in nichtumkämpften Tarifgebieten vermeidet. Dieser Streik hat deutlich gemacht, daß das Streikrecht eingeschränkt ist.

Arbeitgeber verschärfen Tonlage

Doch die Arbeitgeber verschärfen seit 1995 den Ton:
Die IG Metall würde in Tarifrunden ein „Diktat“ durchsetzen und erpresserisch auftreten, die Arbeitgeber hätten die „Parität“ verloren, sie könnten sich nicht mehr wehren, „Just-in-time-Lieferungen“ und starke Vernetzungen würden sie störanfällig machen, die Globalisierung würde sie benachteiligen.

Leere Streikkassen in wenigen Tagen

Der Paragraph 116 AFG ist ein zusätzliches Arbeitskampfmittel der Unternehmer. Er soll die IG Metall in eine Zwickmühle bringen: Entweder sie zahlt an kalt Ausgesperrte auch Unterstützungsleistungen. Dann ist die Streikkasse nach kurzer Zeit leer – der Streik muß abgebrochen werden. Oder sie bricht den Streik gleich ab.

Ein Beispiel:

Etwa 1,6 Millionen Beschäftigte sind direkt oder indirekt von der Automobilindustrie abhängig. Unterstellt man einen Organisationsgrad von rund 70 Prozent, so müßte die IG Metall im schlimmsten Fall Unterstützungsleistungen für 1,12 Millionen Beschäftigte aufbringen.

Bei einem durchschnittlichen wöchentlichen Unterstützungsbetrag von 450 Mark wären das 504 Millionen Mark pro Streikwoche. Bei einem siebenwöchigen Arbeitskampf – wie 1984 – wären das also 3,53 Milliarden Mark. Eine ungeheure Summe, die die IG Metall nicht aufbringen kann.

Zunächst zur vernetzten Produktion und zur Globalisierung: Beides hat die bundesdeutsche Wirtschaft aktiv vorangetrieben – und erfolgreich. Die „schlanke Produktion“ hat Milliardengewinne gebracht. Die Globalisierung hat die deutsche Industrie weltweit gestärkt. Daß die Produktion störanfälliger geworden ist, ist klar. Gleichzeitig haben die Unternehmen damit ihre Möglichkeiten verbessert, die Produktion zu verlagern. Warum sollen sich die Gewerkschaften in dieser Situation mit einem abgespeckten Streikrecht begnügen?

Und dann zur angeblichen Opferrolle der Arbeitgeberverbände: Sie gaukeln eine Schwäche vor, um zu verhindern, daß die neue Bundesregierung den Paragraphen 116 AFG ändert und das uneingeschränkte Streikrecht wieder herstellt. Die Arbeitgeber durchleben zwar eine Phase der Zerstrittenheit. Aber sie können sich sehr schnell auf ihre Stärke besinnen und in einem Arbeitskampf die heiße und kalte Aussperrung auslösen.

Deshalb spricht sich die IG Metall entschieden gegen Aussperrung und Willkür aus.

Rückblick: § 116 AFG - die Reaktion auf einen erfolgreichen Streik

Der von der Regierungskoalitionaus CDU/CSU und FDP 1986 geänderte Paragraph 116 AFG ist entscheidend auf einen erfolgreichen Arbeitskampf der IG Metall im Jahre 1984 zurückzuführen.

Damals konnten die Metallerinnen und Metaller das Tabu der Arbeitgeber – die 40- Stunden-Woche – durchbrechen. Gegen den Streik in den Tarifgebieten Nordwürttemberg- Nordbaden und Hessen setzten die Arbeitgeber ihr zusätzliches Kampfmittel – die Aussperrung und die kalte Aussperrung – ein.

Wannagat (1985): Kein Anlaß für eine Änderung

Der frühere Präsident des Bundessozialgerichts in Kassel, Professor Georg Wannagat, sah im Herbst 1985 „überhaupt keinen Anlaß“, den Paragraphen 116 zu ändern: „Dieser Paragraph hat sich seit seinem Bestehen immer wieder bewährt. Kaum eine Bestimmung ist zudem durch eine so breite Mehrheit zustande gekommen. Das Gesetz wurde von der Großen Koalition 1969 verabschiedet. Die Anordnung stammt vom Verwaltungsrat der Nürnberger Bundesanstalt, in dem gleichberechtigt Arbeitgeber, Gewerkschaften sowie Vertreter von Bund und Ländern sitzen, die ja auch Arbeitgeberfunktionen haben. Hier sind die Gewerkschaften also eher in der Minderheit.“

Landessozialgerichte: Franke-Erlaß rechtswidrig

Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Heinrich Franke, ordnete 1984 während des Arbeitskampfes per Schnellbrief an, daß die Arbeitsämter den von der kalten Aussperrung betroffenen Metallerinnen und Metallern außerhalb der Tarifgebiete Nordwürttemberg-Nordbaden und Hessen das Kurzarbeitergeld verweigern sollen. Das war rechtswidrig, wie später die zuständigen Landessozialgerichte auf Antrag der IG Metall feststellten.

Bundestag beschließt 1986 den „116“

Doch der nach Franke benannte Erlaß wurde später Gesetz. CDU/CSU und FDP haben die Änderung des Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz im Bundestag – trotz starker gesellschaftlicher Proteste – 1986 einfach durchgedrückt. Die Folge: Beschäftigten außerhalb der umkämpften Tarifgebiete derselben Branche können Lohnersatzerleistungen verweigert werden.

Wortlaut bis 1986

Wortlaut seit 15. Mai 1986

(1) Durch die Gewährung von Arbeitslosengeld darf nicht in Arbeitskämpfe eingegriffen werden.

(2) (.....)

(3) Ist der Arbeitnehmer durch einen inländischen Arbeitskampf, an dem er nicht beteiligt ist, arbeitslos geworden, so ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld bis zur Beendigung des Arbeitskampfes, wenn

  1. der Arbeitskampf auf eine Änderung der Arbeitsbedingungen in dem Betrieb, in dem der Arbeitnehmer beschäftigt war, abzielt, oder

  2. die Gewährung des Arbeitslosengeldes den Arbeitskampf beeinflussen würde. Die Bundesanstalt kann Näheres durch Anordung bestimmen (.....).

Neutralitäts-Anordnung

§ 4 Der Anspruch des nichtbeteiligten Arbeitnehmers (§ 1) auf Arbeitslosengeld ruht, wenn der Arbeitnehmer seine Beschäftigung in einem Betrieb verloren hat, weil in einem anderen Betrieb ein Arbeitskampf geführt wird, sofern

  1. dieser Arbeitskampf auf die Änderung von Arbeitsbedingungen eines Tarifvertrages gerichtet ist und der Betrieb, in dem der Arbeitslose zuletzt beschäftigt war, zwar nicht dem räumlichen, aber dem fachlichen Geltungsbereich des in Frage kommenden Tarifvertrages zuzuordnen und

  2. die Gewerkschaften für den Tarifvertragsbereich des arbeitslosen, nichtbeteiligten Arbeitnehmers nach Art und Umfang gleiche Forderungen wie für die am Arbeitskampf beteiligten Arbeitnehmer erhoben haben und mit dem Arbeitskampf nach Art und Umfang gleiche Arbeitsbedingungen durchgesetzt werden sollen.

(1) Durch die Gewährung von Arbeitslosengeld darf nicht in Arbeitskämpfe eingegriffen werden. Ein Eingriff in den Arbeitskampf liegt nicht vor, wenn Arbeitslosengeld Arbeitslosen gewährt wird, die zuletzt in einem Betrieb beschäftigt waren, der nicht dem fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages zuzuordnen ist.

(2) (....)

(3) Ist der Arbeitnehmer durch einen inländischen Arbeitskampf, an dem er nicht beteiligt ist, arbeitslos geworden, so ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld bis zur Beendigung des Arbeitskampfes nur, wenn der Betrieb, in dem der Arbeitslose zuletzt beschäftigt war,

  1. dem räumlichen und fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages zuzuordnen ist oder

  2. nicht dem räumlichen, aber dem fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages zuzuordnen ist und im räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages,

  3. dem der Betrieb zuzuordnen ist,

  1. eine Forderung erhoben worden ist, die einer Hauptforderung des Arbeitskampfes nach Art und Umfang annähernd gleich ist, ohne mit ihr übereinstimmen zu müssen, und

  2. das Arbeitskampfergebnis aller Voraussicht nach in dem räumlichen Geltungsbereich des nicht umkämpften Tarifvertrags im wesentlichen übernommen wird.

(...) Der Anspruch auf Arbeitslosengeld nach Satz 1 ruht nur, wenn die umkämpften oder geforderten Arbeitsbedingungen nach Abschluß eines entsprechenden Tarifvertrages für den Arbeitnehmer gelten oder auf ihn angewendet würden.

(.........)

Der Paragraph 116 AFG „greift“ bei Tarifverhandlungen der IG Metall schon deshalb, weil sie zeitgleich in verschiedenen Bezirken mit den Arbeitgebern am Tisch sitzt. Sie kann sich dieser Parallelität nicht entziehen. Außerdem unterstellt das Gesetz – so wie es vom Bundessozialgericht ausgelegt wird – die Übernahme der Tarifergebnisse. Die letzten Tarifrunden haben gezeigt, daß damit nicht ohne weiteres gerechnet werden kann. Das Übernahmerisiko trägt die IG Metall.

„Bis jetzt ist die IG Metall mit diesem Problem noch fertig geworden. So ist es ihr etwa im vergangenen Arbeitskampf in Bayern gelungen, nur solche Betriebe zu bestreiken, von denen keine Fernwirkungen ausgingen. Insgesamt hat dieser Arbeitskampf gezeigt, daß die Gewerkschaft sich nach wie vor in Tarifauseinandersetzungen behaupten kann.
Aber es läßt sich nicht absehen, wie die Entwicklung weiter verläuft. Die Gewerkschaft befürchtet, daß die Arbeitgeber nun ihrerseits durch gezielte Aussperrungen Fernwirkungen in anderen Bezirken auslösen, um dadurch verstärkten Druck auszuüben. (...)
Ich habe die Arbeitgeberseite in der mündlichen Verhandlung so verstanden, daß sie so etwas nicht in Erwägung zieht. Allerdings konnte man inzwischen in der Presse lesen, daß eine solche Strategie doch erwogen wird.“

Jürgen Kühling, Richter am Bundesverfassungsgericht,

Neutralität des Staates

Der Paragraph 116 soll angeblich die Neutralität des Staates in Arbeitskämpfen gewährleisten. Aber der Staat verhielt sich zuvor keinesfalls neutral. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) bezeichnete die 35-Stunden-Woche als „dumm und töricht“.

1995 erklärte das Bundesverfassungsgericht den Paragraphen 116 für „noch“ verfassungsgemäß.

Ein Streik, ohnehin für die Gewerkschaften engen Regeln unterworfen, steht damit ständig unter dem Damoklesschwert der heißen und kalten Aussperrung. Die Gewichte im Arbeitskampf sind somit erneut verschoben worden.

Bewegliche Arbeitskampfformen

Nachdem das Streikrecht weiter eingeschränkt wurde, sind für die IG Metall bewegliche Arbeitskampfformen noch bedeutsamer geworden. Warnstreiks sind in jeder Tarifrunde unverzichtbar.

Dem Arbeitgeberverband Gesamtmetall war diese Kampfform ein Dorn im Auge. Mit einer aufwendig angelegten Klageaktion versuchten die Metallarbeitgeber in allen Tarifbezirken, die „neue Beweglichkeit“ von den Arbeitsgerichten für rechtswidrig erklären zu lassen. Dies ist ihnen nicht gelungen.

Warnstreik und Aussperrung

Im Laufe der Zeit hat das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechung über Warnstreiks zugunsten der Arbeitgeber verändert und ihnen ein weiteres Einfallstor für die Aussperrung geöffnet. Denn jetzt dürfen die Arbeitgeber schon bei Warnstreiks zum Mittel der Aussperrung greifen.

„Arbeitgeber wollen der IG Metall mit Minimax-Strategie Paroli bieten“

„Die Arbeitgeber wollen bei künftigen Arbeitskämpfen der IG Metall bereits frühzeitig mit Abwehraussperrungen entgegentreten. Eine Kommission soll Betriebe ausfindig machen, bei denen Aussperrungen erhebliche Fernwirkung haben, damit es der Gewerkschaft frühzeitig weh tut.

Bei einer Klausurtagung in Bonn-Bad Godesberg zog das Präsidium der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) eine Bilanz der abgelaufenen Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie, die in Bayern entschieden wurde. Wie das Handelsblatt aus Teilnehmerkreisen erfahren hat, ist diese Runde nach Einschätzung der Arbeitgeber, so schlecht gelaufen wie nie zuvor’. (...)

Ziel der Arbeitgeber ist es dabei, Arbeitskämpfe für die Gewerkschaft wieder teuerer zu machen. Mit frühzeitigen Abwehraussperrungen will man künftig der Gewerkschaft zeigen, daß sie es mit einem ernstzunehmenden Gegner zu tun hat. Dabei müssen die Arbeitgeber die vom Bundesarbeitsgericht vorgegebene Verhältnismäßigkeit zwischen der Zahl der Streikenden und der Ausgesperrten berücksichtigen.

Nach Auffassung der BDA-Präsidien ist es für die Gewerkschaft nicht ausreichend schmerzlich, wenn bei 11.000 Streikenden auch nur 11.000 Arbeitnehmer ausgesperrt werden. Daher sucht man entsprechend der früheren Minimax-Strategie (kleine Ursache – große Wirkung) der IG Metall Betriebe, bei denen Aussperrungen erhebliche Fernwirkungen auslösen. Hinzu kommt, daß die ausgewählten Unternehmen bereit sein müssen, eine Aussperrung durchzuführen. Grundlage dafür soll eine stärkere Solidarität im Arbeitgeberlager sein.“

Handelsblatt, Mittwoch, 28. Juni 1995

Bundesverfassungsgericht: 116 „noch“ nicht verfassungswidrig

Am 4. Juli 1995 hat das Bundesverfassungsgericht – nach einer Verfassungsbeschwerde der IG Metall vom 15. Mai 1986 – entschieden, daß der Paragraph 116 AFG „noch“ nicht verfassungswidrig ist. Seine Folgen – nämlich die Beschränkung der Arbeitskampfmöglichkeiten durch kalte Aussperrung außerhalb eines umkämpften Tarifgebietes – seien noch nicht eingetreten.

Das Bundesverfassungsgericht spricht zwar ausdrücklich davon, daß dieser Paragraph die Streikfähigkeit der IG Metall beeinträchtigt. Es stellt gleichwohl fest, daß die IG Metall „noch“ zu wirksamen Streiks in der Lage sei.

„Die Streikfähigkeit bleibt wie in der Vergangenheit, seit es den Paragraphen 116 gibt, erheblich eingeschränkt. Gerade das hat dieser Streik in Bayern gezeigt, völlig unabhängig von dem Ergebnis. Fakt ist, daß die IG Metall unter dem Paragraphen 116 erst einmal ein hohes Risiko eingeht, wenn sie gezwungen ist, einen Streik führen zu müssen. Denn niemand kann kalkulieren, wie eine solche Auseinandersetzung heute noch verläuft. (...)
Ab dem Zeitpunkt, wo es zur Aussperrung kommt, haben wir keine Steuerungsmöglichkeit mehr. Einzig und allein die Arbeitgeber würden darüber entscheiden, wie viele Streikende beziehungsweise kalt Ausgesperrte Geld von der IG Metall bekommen würden. Es gibt keine Gewerkschaft auf der ganzen Welt, die in der Lage wäre, Hunderttausende von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in irgendeiner Weise finanziell zu unterstützen.“

Klaus Zwickel,
1. Vorsitzender der IG Metall, 1995

Streikfähigkeit der IG Metall bedroht

In dieser Hinsicht ist der IG Metall ihre seit 1985 erfolgreich praktizierte Tarifpolitik entgegengehalten worden. Vor allem der Streik in Bayern 1995 gilt als Beweis, daß sie sich trotz des Paragraphen 116 AFG tarifpolitisch durchsetzen kann. „Bislang hat der von den bestreikten Betrieben ausgehende Druck noch ausgereicht, um die Arbeitgeber insgesamt zum Einlenken zu veranlassen. Das Ergebnis gerade dieses Arbeitskampfes wird allgemein als Erfolg der Gewerkschaft angesehen“, so das Gericht.

Andererseits aber hat dem Urteil zufolge dieser Arbeitskampf in Bayern auch weitere Risiken für die Tarifautonomie erkennen lassen. Wäre es im bayerischen Metallkonflikt zu Aussperrungen gekommen, so hätten dadurch Beschäftigungsausfälle in anderen Bezirken in einem Umfang auftreten können, der die Kampfkraft der IG Metall erheblich geschwächt hätte, heißt es im Urteil.

In der Urteilsbegründung nimmt das Bundesverfassungsgericht die Sorge der IG Metall ernst, daß ihre Kampffähigkeit beeinträchtigt werde. Es akzeptiert die Bedrohung der Kampffähigkeit einer Gewerkschaft durch die Tatsache Hunderttausender ausgesperrter Mitglieder als Bedrohung der Streikfähigkeit schlechthin.

Arbeitgeber wälzen Risiko voll auf Beschäftigte ab

Wer zahlt, wenn wegen eines Streiks oder einer Aussperrung in einem anderen

Betrieb nicht weitergearbeitet kann? Die Rechtslage nach Paragraph 615 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) klingt unmißverständlich:

Ist der Arbeitnehmer arbeitsbereit, kann ihn der Arbeitgeber aber nicht beschäftigen, so muß der volle Lohn gleichwohl bezahlt werden. Dem Arbeitgeber bleibt lediglich die Möglichkeit, Kurzarbeit einzuführen, wofür er allerdings die Zustimmung des Betriebsrats benötigt.

Das Reichsarbeitsgericht (1923) und später das Bundesarbeitsgericht (1980) entschieden aber gegen den Wortlaut des Gesetzes: Wird ein Produktionsstillstand beim Arbeitgeber dadurch verursacht, daß an anderer Stelle Arbeiter streiken, wird der Arbeitgeber von seiner Lohnzahlungspflicht befreit.

Im Zusammenhang damit entstanden in der Weimarer Republik die ersten Regelungen, die für kalt ausgesperrte Arbeitnehmer Leistungen der Arbeitslosenversicherung vorsahen.

Der Kompromiß, den die Große Koalition in Bonn 1969 zum Paragraphen 116 gefunden hatte, bestätigte: mittelbar vom Arbeitskampf betroffene Arbeitnehmer erhalten Kurzarbeitergeld. Dies ist seit der Änderung des „116“ im Jahr 1986 nicht mehr der Fall. Damit ist die Gesetzeslage nochmals zum Nachteil der Arbeitnehmer und zum Vorteil der Arbeitgeber verändert worden.

Standpunkt: 10 Gründe für die Reform des Paragraphen 116 AFG

  1. Zur Tarifautonomie gehört der Streik. Ohne das Verfassungsrecht auf Streik – so das Bundesarbeitsgericht 1984 – wären Tarifverhandlungen „nicht mehr als kollektives Betteln“. Deshalb darf das Streikrecht nicht eingeschränkt werden.

  2. Streik und Aussperrung

  3. Auch ohne den Paragraphen 116 AFG gibt es kein Gleichgewicht der Kräfte – keine „Parität“ zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Denn die Unternehmen können aussperren. Schon die Aussperrung ist ein zusätzliches Kampfinstrument für die Arbeitgeber, die über die Produktionsanlagen verfügen und denen die Produktivitätssteigerungen zugute kommen. Sie können sich darauf beschränken, Forderungen der Arbeitnehmer abzulehnen.

  4. Dieser Paragraph 116 ist ein zusätzliches Kampfmittel der Arbeitgeber. Die IG Metall ist zu einer Streiktaktik gezwungen, die Fernwirkungen möglichst vermeidet. Doch die Arbeitgeber haben es in der Hand, durch Aussperrung im Kampfgebiet diese Fernwirkungen mit unabsehbaren Folgen zu maximieren. Diese Strategie ist 1995 von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber (BDA) offen diskutiert worden (siehe hier).

  5. Arbeitskampf

  6. Das krasse Mißverhältnis zwischen der Zahl der Streikenden und der der Ausgesperrten hat der Arbeitskampf von 1984 offenbart (siehe Grafik).

  7. Keine Gewerkschaft könnte die kalt Ausgesperrten in den nicht umkämpften Tarifgebieten finanziell unterstützen. Die IG Metall müßte unter Umständen Milliardenbeträge für Unterstützungsleistungen aufbringen (Rechenbeispiel siehe hier). Der von der CDU/CSU/FDP-Koalition durchgesetzte Paragraph 116 bringt die Gewerkschaft bei jedem Arbeitskampf in eine existenzbedrohende Situation.

  8. Wichtige Streiks

  9. Das Risiko der kalten Aussperrung außerhalb des Kampfgebietes wird ganz auf den einzelnen Arbeitnehmer abgewälzt, der es als Gewerkschaftsmitglied gegenüber seiner Gewerkschaft reklamieren soll. „Dieser Druck kann so stark werden, daß die Gewerkschaft einen Arbeitskampf abbrechen muß“, so Jürgen Kühling, Richter am Bundesverfassungsgericht. Klaus Zwickel spricht daher vom „Geiselparagraph 116 gegen die Gewerkschaften“. Es besteht die Möglichkeit, daß die eigenen Mitglieder, die m mittellos dastehen, auf die Gewerkschaft einen starken Druck ausüben, damit der Streik abgebrochen wird.

  10. Das Streikrisiko, das für die Gewerkschaft und ihre Mitglieder aufgrund von Globalisierung, vernetzter Produktion, Drohung mit Produktionsverlagerung schon hoch genug ist, wird durch den Paragraphen 116 AFG geradezu unzumutbar. Die Androhung, die Produktion zu verlagern, kann unter Umständen das Ende des Streiks bewirken.

  11. Die Übernahme eines Abschlusses in anderen Tarifgebieten ist überhaupt nicht sicher, wie die Tarifrunden 1995 und 1999 gezeigt haben. Es waren weitere harte Verhandlungen der IG Metall mit den Arbeitgeberverbänden – begleitet von massenhaften Warnstreiks – erforderlich.

  12. Die Gewerkschaften – auch und gerade die IG Metall – haben nur in unausweichlichen, wichtigen Fällen gestreikt (Grafik über Arbeitskämpfe der IG Metall von 1956 bis 1993). Sie gehen mit diesem Streikrecht äußerst zurückhaltend um.

  13. Wie besonnen die deutschen Gewerkschaften das Streikrecht nutzen, zeigt die Statistik der letzten Jahre (siehe Grafik). Der niedrige Wert für Deutschland wird obendrein noch durch drei Jahre mit besonders harten Arbeitskämpfen verzerrt. Ohne die Jahre 1971, 1978 und 1984 wären es in Deutschland nur rund elf Ausfalltage je 1.000 Beschäftigte. Selbst in den USA wird öfter gestreikt.

Disput: 7 Arbeitgeber-Behauptungen auf dem Prüfstand

Seit der Tarifrunde von 1995 schlagen die Arbeitgeberverbände schrillere Töne an. Sie bauen einen Popanz auf und sprechen von den übermächtigen Gewerkschaften, denen sie nicht mehr Paroli bieten könnten. Dahinter steckt vor allem eins: Sie wollen ihre Machtfülle gegenüber den Gewerkschaften – verstärkt durch den Paragraphen 116 AFG und die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu Warnstreiks – manifestieren. Ihre Behauptungen halten einer Prüfung nicht Stand.

1. „Diktat der IG Metall“

Den Abschluß eines Vertrages – nach mehreren langwierigen Verhandlungen – als Diktat zu bezeichnen, entbehrt jeder Grundlage. Die Arbeitgeber desavouieren sich als Vertragspartner. Sie reden sich schwach. Sind sie es wirklich? Sind sprunghaft steigende Gewinne, sinkende Lohnstückkosten und der gravierende Abbau von Arbeitsplätzen ein Zeichen von Schwäche der Arbeitgeber (siehe Grafiken hier und hier)? Sie sind vielmehr Ausdruck wachsender Stärke.

„Die Tarifverträge sind nicht mehr das Ergebnis der Verhandlungen zweier gleich starker Partner. Sie sind mehr oder weniger das Diktat eines Partners, der IG Metall. Die IG Metall setzt ihre Vorstellungen weitgehend durch die Drohung mit einem Arbeitskampf durch. Die Arbeitgeber können oder wollen keinen Arbeitskampf führen und geben nach.“
Helmut Klatt, Geschäftsführer des Unternehmensverbandes für den Kreis Gütersloh
(Frankfurter Allgemeine, 9. April 1999)

Gewinne steigen und steigen

Den Gewerkschaften ist es bei den Verteilungskämpfen der letzten Jahre immer schwerer gefallen, einen gerechten Anteil für die Arbeitnehmer durchzusetzen. In mehreren Jahren gab es Reallohneinbußen. Dieser Trend ist angesichts einer Massenarbeitslosigkeit auf hohem Niveau, die Hunderttausende von Beschäftigten um ihre Arbeitsplätze fürchten läßt, kein Wunder.

Die Arbeitgeber brauchen diese Opferrolle, um der Politik klarzumachen, daß der von CDU/CSU und FDP geänderte Anti-Streikparagraph 116 AFG auf keinen Fall wieder in den alten Zustand versetzt werden darf. Sie konstruieren eine Opferrolle, um ihre eigene, wachsende Aggressivität zu kaschieren. Sie reden von Partnerschaft, aber meinen zwischen den Zeilen sehr deutlich, Lohnerhöhungen müßten künftig niedriger ausfallen als der Produktivitätsanstieg.

Es ist richtig, daß die IG Metall 1999 mit einem Streik gedroht hat. Das ist weder neu noch rechtswidrig. Streikdrohung und Streik sind in Deutschland seltene Ausnahmen – nicht die Regel. Außerdem handelt es sich beim Streik um ein grundgesetzlich verbrieftes Recht. Niemand kann ernsthaft behaupten, die IG Metall sei seit Anfang der neunziger Jahre stärker, die Arbeitgeber schwächer geworden. Wer dies meint, verschleiert die Wahrheit.

2. „Tarifabschluß als Schock empfunden“

„Der letzte Tarifabschluß wurde von großen wie von kleinen Unternehmen unisono geradezu als Schock empfunden. Ich sehe nicht, daß es da unterschiedliche Auffassungen gibt. Sowohl die Höhe des Abschlusses, als auch die Art und Weise wie er zustande gekommen ist, hat die Unternehmen getroffen. Die IG Metall hat den Abschluß im prosperierendsten Bereich der deutschen Metallindustrie – in Baden- Württemberg – gesucht und ihn dann rigoros auf alle anderen Länder ohne Rücksicht auf Verluste übertragen.“
Werner Stumpfe, Gesamtmetall-Präsident
(Freie Presse, 18. Juni 1999)

Diesen Tarifabschluß 1999 konnten alle Unternehmen gut verkraften. Er lag in der Metallindustrie immer noch unter der Produktivitätssteigerung. Die IG Metall hat sich nicht dagegen gewehrt, in einem anderen Tarifgebiet zu einem Abschluß zu kommen. Es fehlte die Bereitschaft der dortigen Arbeitgeberverbände. Auch nimmt die IG Metall keinen Einfluß darauf, wie Gesamtmetall seine Verhandlungskommissionen besetzt. Außerdem ist die Mitgliederstruktur im Südwesten nicht wesentlich anders als in anderen Regionen. Zwischen 70 und 80 Prozent der Betriebe haben dort weniger als 500 Beschäftigte.

Es steht auch nicht in der Macht der IG Metall, einen Tarifabschluß „rigoros auf alle anderen Länder” zu übertragen. Auch hier haben Arbeitgebervertreter ihre Unterschrift unter den Tarifvertrag gesetzt, nachdem sie zunächst einmal die Übernahme abgelehnt hatten. Hinter dem Argument der angeblichen Erpreßbarkeit steht das Ziel der Arbeitgeber, die Gewerkschaften zum freiwilligen Verzicht auf das Streikrecht zu bewegen. Die Gewerkschaften sollen sich schon bei der Aufstellung einer Forderung mäßigen und sich einer „freiwilligen Selbstkontrolle” unterwerfen.

3. „Verhandlungsergebnis kaum vertretbar“

„Unsere Unternehmen bewerten das Belastungsvolumen des Verhandlungsergebnisses als zu hoch; es ist gerade vor dem Hintergrund der nach wie vor schwierigen wirtschaftlichen Situation der Metall- und Elektro-Industrie in Hamburg/Schleswig-Holstein kaum vertretbar.“
Dr. Thomas Klischan, Hauptgeschäftsführer
von Nordmetall 10. März 1995)

Die Arbeitgeberverbände tun nach dem Tarifabschluß so, als seien sie nicht dabei gewesen. Doch in den entscheidenden Phasen der Verhandlungen sind stets alle Arbeitgeberverbände mit von der Partie. Angst vor der eigenen Courage scheint sie hier zu packen. Wie will jemand, der sich von den eigenen Verträgen distanziert, gegenüber seinen Mitgliedern glaubwürdig bleiben? Gesamtmetall und seinen Mitgliedsverbänden ist offensichtlich die notwendige Verbandsdisziplin abhanden gekommen. Die Schwierigkeiten sind hausgemacht. Deshalb müssen die Arbeitgeber selbst für ihre notwendige Disziplin sorgen.

4. „Arbeitgeber müssen Paritätsverlust beklagen”

Der Arbeitskampf in der bayerischen Metallindustrie hat vielmehr die Grenzen eines Streiks unter den Bedingungen des Paragraphen 116 AFG aufgezeigt. Diese Grenzen werden in der geringen Zahl der Streikbetriebe und in der Streikdauer deutlich. Die IG Metall hat unterstrichen, daß sie keine Eskalation wollte. Sie war zu einem Streikkonzept gezwungen, das Fernwirkungen vermied. Sie war nicht frei in der Wahl dieses Konzepts und deshalb auch nicht „Herr des Arbeitskampfes”.

„Im Jahr 1995 ist das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Tarifvertragsparteien verlorengegangen, und es sind die Arbeitgeber, die in dieser neuen tarifpolitischen Konstellation den Paritätsverlust beklagen müssen. In den Tarifrunden 1995 haben die Gewerkschaften, in der bayerischen Metallindustrie beginnend, den Beweis erbracht, daß sie die Tarifpolitik bestimmen, daß sie auch die wirklichen Herren des Arbeitskampfes sind, trotz der angeblichen Beschränkungen durch den geltenden § 116 AFG.“
Hans Mundorf, Redakteur
(Handelsblatt, 5. Juli 1995)

Differenzen und Zaudereien der Arbeitgeber können nicht der Gewerkschaft angelastet werden. Und da die Unternehmen über das Angebot von Arbeitsplätzen entscheiden und über die Produktionsanlagen verfügen, sitzen immer noch sie am „längeren Hebel”.

5. „Arbeitgeber können keinen Arbeitskampf mehr riskieren“

„Im Zeitalter des Globalismus gibt es diesen geschlossenen Wirtschaftsraum nicht mehr. Bei jeder Produktionsstörung durch einen Arbeitskampf wird sofort die ausländische Konkurrenz den Markt besetzen. Deshalb sind die Arbeitgeber nicht mehr in der Lage, überhaupt einen Arbeitskampf zu riskieren, sie haben ihre Parität verloren.“
Dieter Kirchner, Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall bis 1995
(Handelsblatt, 4. Juni 1999)

Die geringe Zahl der streikbedingten Ausfalltage in Deutschland – im Vergleich zu anderen Industrieländern – verschafft den Betrieben Standortvorteile (siehe Grafik). Die hier ansässigen Unternehmen sind also mit ihrem Arbeitskampfrisiko im internationalen Wettbewerb gut gerüstet. In Italien oder Frankreich, in Großbritannien oder Japan, aber auch in den USA sind ihre Konkurrenten in sehr viel stärkerem Maße mit Arbeitskämpfen und daraus resultierenden Produktionsstörungen konfrontiert. Arbeitskämpfe finden überall in dieser Welt statt. Nicht nur deutsche Unternehmen müssen sich ihnen stellen. Gerade angesichts der Globalisierung ist der Flächentarifvertrag das überzeugende Instrument. Er bündelt Tarifrunden und garantiert den tarifgebundenen Unternehmen während der Laufzeit Arbeitsfrieden und Verläßlichkeit.

Lohn- und Gehaltsanteil am Umsatz

Die Globalisierung verschafft den Arbeitgebern einen entscheidenden Vorteil: Sie können die Produktion verlagern und dazu beitragen, daß Streiks nicht mehr den notwendigen Druck entfalten und von den Gewerkschaften abgebrochen werden müssen. Die Arbeitgeber können die Produktion verlagern, die Gewerkschaften aber nicht den Streik.

6. „Kunden und Lieferanten sind enger vernetzt”

„Der Interessenkonflikt zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften wird heute viel stärker als in der Vergangenheit durch den Wettbewerb zwischen den Volkswirtschaften überlagert. Durch die Globalisierung der Wirtschaft sind insbesondere die Unternehmen der Metall- und Elektro-Industrie viel enger als früher mit ihren in- und ausländischen Kunden und Lieferanten vernetzt.“
Positionspapier zur friedlichen Lösung von Tarifkonflikten
(verabschiedet vom Vorstand des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, 5. März 1998 in Berlin)

Die schlanke Produktion durch „Just-in-time”-Lieferungen, Outsorcing und Single-sourcing haben die Arbeitgeber vorangetrieben. Das hat den Industrieunternehmen zu riesigen Produktivitätssprüngen verholfen und ihnen Milliardengewinne beschert. Doch jetzt droht die „Revolution ihre Väter zu fressen“, schreibt das Handelsblatt.

Denn einerseits hat es beispielsweise die Autoindustrie geschafft, die Zahl ihrer Vertragspartner zu reduzieren. Andererseits begeben sich die Autohersteller durch die Vergabe von Teilen der Produktion an starke Fremdfirmen immer häufiger in problematische Abhängigkeitsverhältnisse, wie der Zwist zwischen Ford und dem Schlösserlieferanten Kiekert belegt (siehe hier). Sie sparen enorme Kosten bei der Lagerhaltung.

„Die Metall-Betriebe sind durch das Netz von Zulieferern und Lieferanten, in das sie eingebunden sind, weitaus verwundbarer gegen Störungen geworden als noch vor 10 oder 15 Jahren. Die Betriebe tun sich heute schwer damit, auf die Linie des Arbeitskampfes einzuschwenken. (....)“
Martin Kannegießer, Verhandlungsführer der Metall-Arbeitgeber in NRW
(Westfalenpost, 1. März 1999)

Wenn ein Unternehmen wegen möglichst hoher Profite bewußt ein Risiko eingeht, darf es sich über die Folgen nicht beklagen.

Die Unternehmer treiben die Globalisierung und Vernetzung voran, um Gewinne zu steigern. Die bundesdeutschen Konzerne gehören zu den eindeutigen Globalisierungsgewinnern. Im gleichen Atemzug verlangen sie von den Gewerkschaften, darauf Rücksicht zu nehmen, also „friedlicher“ zu werden und sich zu mäßigen.

Nichts spricht dafür, daß es für die Arbeitgeberverbändeschwieriger geworden ist, in einem Arbeitskampf zu bestehen.

Es liegt auch an den Arbeitgebern, wenn es den Betrieben angeblich schwerer fällt, „auf die Linie des Arbeitskampfes einzuschwenken”. Sie haben den neuen Paragraphen 116 AFG gewollt. Er schränkt das Streikrecht der IG Metall ein. Sie muß seitdem versuchen, bei einem Arbeitskampf möglichst Fernwirkungen zu vermeiden.

Damit empfindet sich die gesamte Automobilindustrie mit allen strategisch wichtigen Zulieferern als „streikfreie Zone“. Das wirkt sich auf den Zusammenhalt in den Arbeitgeberverbänden aus und beeinträchtigt Gemeinsamkeiten.

Ein wesentlicher Teil der Branche wiegt sich in Sicherheit. Er ist offensichtlich auch nicht mehr bereit, einen Aussperrungsbeschluß mitzutragen. Hierin liegt wohl im wesentlichen der Grund dafür, daß die Arbeitgeberverbände schwächeln.

Doch darauf kann die IG Metall nicht bauen. Die Arbeitgeberverbände können sich morgen schon wieder auf ihre Stärke besinnen und in einem Arbeitskampf die heiße und kalte Aussperrung anwenden. Deshalb muß der Paragraph 116 AFG, der heutige Paragraph 146, Sozialgesetzbuch III, weg.

7. „Zwang zur Einigung“

„Es geht nicht um eine Aushöhlung des Streikrechts, sondern es muß einen Zwang zur Einigung geben wie bei der Papstwahl. Streiks oder Aussperrungen sind wirklich Werkzeuge des vergangenen Jahrhunderts.“
Dieter Hundt, Arbeitgeberpräsident
(Manager Magazin, Februar 1998)

Die Gewerkschaften sollen faktisch auf das Streikrecht verzichten, auch wenn es formal unangetastet bleibt. Dies soll der Preis sein, um Tarifautonomie und Flächentarifvertrag zu retten. Letztlich läuft das auf kollektive Bettelei hinaus. Denn nichts spricht dafür, daß Arbeitgeber freiwillig tarifliche Leistungen verbessern.

Kiekert legt Ford-Produktion lahm

Als die Firma Kiekert die Ford AG im Juni 1998 nicht mehr mit Türschlössern belieferte, mußte der Autokonzern die Produktion einiger Modelle für mehrere Tage stoppen. Der Schaden habe – so Ford – in einer dreistelligen Millionenhöhe gelegen. Kiekert war damals Alleinlieferant bei Ford (Marktanteil in Deutschland: 80 Prozent). Als Reaktion darauf hat sich Ford einen zweiten Lieferanten gesucht. Kiekert begründete seinen Lieferstop mit Werkzeugproblemen, die bei einem Unterlieferanten aufgetreten seien.

Auch ein freiwilliger Tarifrat, wie ihn der frühere Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall, Dieter Kirchner, vorgeschlagen hat, wäre nicht sinnvoll. Es gibt keinen besseren Gradmesser für den richtigen Lohnabschluß als Tarifverhandlungen, die die Möglichkeit eines Arbeitskampfes einschließen. Rituale wie bei der Papstwahl bleiben besser der katholischen Kirche überlassen.

Die Arbeitgeberverbände sollten keine neuen „Konfliktregelungsmechanismen” heraufbeschwören, sondern die Tarifautonomie stärken und verantwortungsvoll nutzen.

Ausblick: Auf dem Weg, den Paragraphen 116 AFG wieder zu ändern

Die IG Metall setzt sich dafür ein, wieder die ursprüngliche Rechtslage herzustellen. Ihre Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht zwar 1995 zurückgewiesen. Das Gericht entschied, der Paragraph 116 AFG sei „noch“ nicht verfassungswidrig. Gründe hierfür waren für Karlsruhe vor allem, daß sich die IG Metall in den letzten Tarifrunden recht erfolgreich habe durchsetzen können und daß die Folgen des 116 bisher „noch nicht eingetreten“ seien.

Die IG Metall und die anderen DGB-Gewerkschaften haben die Bundestagsfraktion der SPD dabei unterstützt, 1995 einen Gesetzentwurf einzubringen, der die alte Rechtslage herstellen sollte (siehe hier). Die Bundestagsabgeordneten Rudolf Dreßler und Adi Ostertag haben während der Plenumsdebatte in Bonn am 10. März 1995 deutlich gemacht, warum der geltende Anti-Streik-Paragraph beseitigt werden muß (siehe hier).

Die neue Bundesregierung hat versprochen, daß dieses Thema im Jahr 2000 angegangen wird, indem sie das SGB III novelliert. In der Koalitionsvereinbarung heißt es, daß sie „die Chancengleichheit der Tarifvertragsparteien sichern will“ (siehe hier).

Paragraph 116 paßt nicht zur Konsensgesellschaft

Die IG Metall setzt sich dafür ein, daß der Gesetzentwurf der SPD wieder in den Bundestag eingebracht und verabschiedet wird. Er entspricht dem alten Paragraphen 116, ist aber klarer und weniger mißverständlich formuliert. Ein erneuter Franke-Erlaß wäre damit nicht möglich. Die neue Bundesregierung steht im Wort. Diese Reform muß kommen.

Der geltende Paragraph 116 AFG muß weg. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht erklärt hat, dieser Paragraph sei „noch“ verfassungsgemäß: Zur grundgesetzlich verbrieften Koalitionsfreiheit gehört ein uneingeschränktes Streikrecht, das es derzeit nicht gibt. Insofern ist der Paragraph 116 auch Ausdruck einer demokratiefeindlichen Tendenz.

Der Paragraph 116 paßt nicht in ein Gesellschaftssystem, das auf Konsens ausgerichtet ist. Er schürt nicht nur die Konfrontation. Er macht Arbeitskämpfe denkbar, die zu einer für niemanden mehr kalkulierbaren gesellschaftlichen Eskalation führen können. Insofern zerstört der Paragraph 116 AFG die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland.

SPD begründet Reformgesetz

In der schriftlichen Begründung des SPD-Gesetzentwurfs heißt es unter anderem: „Die Tarifautonomie ist Grundlage und Garant für die demokratische und sozialstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Funktionsfähigkeit ist abhängig von einer ausbalancierten Kräfteverteilung der Tarifvertragsparteien. Auch der Staat ist für diese Machtbalance verantwortlich, er muß sich selbst strikt der Neutralität unterwerfen.“

Die SPD-Initiative begründeten im Plenum des Deutschen Bundestages am 10. März 1995 unter anderem der stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Rudolf Dreßler, und der Bundestagsabgeordnete Adi Ostertag.

Rudolf Dreßler:

Adi Ostertag:

„Dieser sogenannte Franke-Erlaß war der Testlauf für die spätere Beseitigung der Neutralität der Bundesanstalt in Arbeitskämpfen durch Gesetz. (...) Er war ein eiskalt in Szene gesetzter, wohlgeplanter Coup gegen die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften. Einer der Vorgänger von Norbert Blüm im Ministeramt, Hans Katzer, sah die Sachlage immer völlig anders als sein Nachfolger Blüm. Katzer war in der Großen Koalition von 1966 bis 1969 Bundesarbeitsminister. Er ist überdies Vorgänger Blüms als Chef der CDU-Sozialausschüsse gewesen. Nicht zuletzt auf Katzers Betreiben hatte die Große Koalition 1969 durchgesetzt, daß Paragraph 116 des AFG im Regelfall Lohnersatzleistungen bei mittelbar vom Streik betroffenen Arbeitnehmern nach sich zieht. Norbert Blüm hat das Gesetz von Hans Katzer auf den Kopf gestellt.“

„Eines ist doch klar, trotz der grundgesetzlich garantierten Tarifautonomie sind die Gewerkschaften in der Wahl ihrer Mittel seit 1986 nicht mehr frei. Dieses Damoklesschwert der kalten Aussperrung schwebt über allen ihren Entscheidungen, von der Aufstellung der Tarifforderungen bis zur Auswahl der bestreikten Betriebe. Ich glaube, dazwischen liegt noch ein weites Spektrum von gewerkschaftlichen Aktivitäten. Hinter der damaligen Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes stand die Absicht, die Beschäftigten zu entsolidarisieren, durch die kalte Aussperrung die Streikkassen der Gewerkschaften zu plündern und ihre Kampfkraft zu schwächen. (...) Der ökonomisch Starke erhält noch einen Knüppel, um auf die sozial Schwachen einzuschlagen. Dieser Knüppel wird zum Vorschlaghammer, wenn die Unternehmer extrem aussperren.“

Gesetzentwurf der Fraktion der SPD vom 7. März 1995

Entwurf eines Gesetzes zur Wiederherstellung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen

A. Zielsetzung

Seit Beginn ihrer Verabschiedung ist die jetzige Fassung des Paragraphen 116 AFG, eingefügt durch das Gesetz zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen vom 15. Mai 1986, BGBI. I S. 740, heftig umstritten. Durch die jetzige Fassung des Paragraphen 116 AFG wird ohne hinreichende gesetzgeberische Klarheit und Bestimmtheit in die Betätigungsfreiheit der Gewerkschaften durch Leistungskürzungen bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eingegriffen, womit die Kampfparität zu Lasten der Gewerkschaften verändert wurde.(......)

Paragraph 116 Neutralität der Bundesanstalt in Arbeitskämpfen

(1) Die Bundesanstalt hat sich in Arbeitskämpfen neutral zu verhalten. Deshalb ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld während eines Arbeitskampfes nach Maßgabe der Absätze 2 und 3.

(2) Ist der Arbeitnehmer durch einen inländischen Streik arbeitslos geworden, so ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld bis zur Beendigung des Streiks. Der Arbeitnehmer ist am Arbeitskampf nicht beteiligt, wenn er selbst nicht streikt.

(3) Ist der Arbeitnehmer durch einen inländischen Streik, an dem er nicht beteiligt ist (Absatz 2 Satz 2) arbeitslos geworden, so ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld bis zur Beendigung des Streiks nur, wenn

  1. der Arbeitnehmer arbeitslos geworden ist, weil in dem Betrieb, in dem er zuletzt beschäftigt war, andere Arbeitnehmer streiken oder der Betrieb, in dem der Arbeitslose zuletzt beschäftigt war, unter den räumlichen und fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages fällt und

  2. dieser Streik um Arbeitsbedingungen geführt wird, die für den arbeitslosen nicht beteiligten Arbeitnehmer zuletzt gegolten haben oder auf ihn angewendet worden sind oder bei Arbeitsaufnahme für ihn gelten oder auf ihn angewendet würden.

(4) Ist bei einem Streik das Ruhen des Anspruchs nach Absatz 3 für eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern ausnahmsweise nicht gerechtfertigt, so kann der Verwaltungsausschuß des Landesarbeitsamtes bestimmen, daß ihnen Arbeitslosengeld zu gewähren ist. Erstrecken sich die Auswirkungen des Streiks über den Bezirk eines Landesarbeitsamtes hinaus, so entscheidet der Verwaltungsrat. Dieser kann auch in Fällen des Satzes 1 die Entscheidung an sich ziehen.

Auszug aus der Koalitionsvereinbarung der rotgrünen Bundesregierung vom Oktober 1998

„8. Tarifautonomie bewahren

  • Arbeitnehmerrechte sichern

  • Mitbestimmung stärken

Die neue Bundesregierung wird umgehend dafür sorgen, daß unsoziale Einschnitte bei den Arbeitnehmerschutzrechten korrigiert werden.

Die neue Bundesregierung wird Fehlentscheidungen wie beim Kündigungsschutz, bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und beim Schlechtwettergeld korrigieren und die Chancengleichheit der Tarifvertragsparteien sichern.

Die neue Bundesregierung wird die Mitbestimmung am Arbeitsplatz sowie in Betrieb und Verwaltung im Interesse der Beteiligung und Motivation der Beschäftigten stärken und an die Veränderungen in der Arbeitswelt anpassen. Vorrangig ist dazu eine grundlegende Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes (Betriebsbegriff, Arbeitnehmerbegriff, Telearbeit, Vereinfachung des Wahlverfahrens). Dazu kommen muß die Sicherung und Weiterentwicklung der qualifizierten Mitbestimmung in den Unternehmen und in Europa (Europäische Betriebsräte, Europäische Aktiengesellschaft). Darüber hinaus wollen wir die Tarifautonomie stärken, vor allem durch ein Klagerecht der Verbände und eine einfachere Möglichkeit zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung.“

Mini-Lexikon

AFG 116:

Der Paragraph 116 Arbeitsförderungsgesetz (der heutige Paragraph 146 Sozialgesetzbuch III) regelt den Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Kurzarbeitergeld der mittelbar von einem Arbeitskampf betroffenen Beschäftigten. Seit 1986 darf Kurzarbeitergeld außerhalb des Kampfgebietes derselben Branche nicht gezahlt werden, wenn dort eine Forderung erhoben wird, „die einer Hauptforderung des Arbeitskampfes nach Art und Umfang gleich ist, ohne mit ihr übereinstimmen zu müssen, und wenn das Arbeitskampfergebnis aller Voraussicht nach in dem räumlichen Geltungsbereich des nicht umkämpften Tarifvertrags im wesentlichen übernommen wird“.

Aussperrung:

(siehe auch „Kalte Aussperrung“) Die Arbeitgeber können nach herrschender Rechtsauffassung auf einen gewerkschaftlichen Streik mit einer Aussperrung reagieren. Dabei muß allerdings das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden (siehe auch „Aussperrungsquoten“). Die Gewerkschaften lehnen die Aussperrung ab. Aussperrung und Streik sind keine gleichwertigen Kampfinstrumente. Beim Streik schließen sich Schwache zusammen, um etwas zu erreichen. Bei der Aussperrung nehmen die Unternehmer (die wirtschaftlich Starken) die Ausgesperrten als Geiseln, um die Streikenden zur Aufgabe zu bewegen. Bei einer Aussperrung verweigern die Arbeitgeber den Arbeitnehmern die Beschäftigung und die Lohn-/Gehaltszahlung. Menschen werden zu Objekten gemacht. Mit der Menschenwürde ist die Aussperrung daher unvereinbar.

Aussperrungsquoten:

Das Bundesarbeitsgericht hat – im Hinblick auf die „Verhältnismäßigkeit“ – Aussperrungsquoten definiert: Werden weniger als 25 Prozent der Arbeitnehmer im Tarifgebiet zur Arbeitsniederlegung aufgefordert, so dürfen höchstens 25 Prozent der Arbeitnehmer ausgesperrt werden. Werden mehr als 25 Prozent zum Streik aufgerufen, so dürfen nur so viele Arbeitnehmer ausgesperrt werden, daß Streikende und Ausgesperrte zusammen nicht mehr als 50 Prozent der Arbeitnehmer eines Tarifgebietes ausmachen. Sind bereits 50 Prozent der Arbeitnehmer oder mehr zum Streik aufgerufen oder von einem Aussperrungsbeschluß betroffen, so ist eine weitere Aussperrung unzulässig.

Firmentarifvertrag:

Das ist eine Vereinbarung, die eine Gewerkschaft nur für ein Unternehmen abschließt. Sie wird auch Haustarifvertrag genannt und kann alle Arbeits- und Einkommensbedingungen regeln. Firmentarifverträge werden auch als Anerkennungstarifverträge abgeschlossen, wodurch der Flächentarifvertrag übernommen wird.

Flächentarifvertrag:

Wenn eine Gewerkschaft mit einem Arbeitgeberverband für einen Wirtschaftszweig und eine Region (Bundesland oder auch bundesweit, Tarifbezirk) einen Vertrag abschließt, spricht man von einem Flächentarifvertrag. Im Gegensatz zu einem Firmentarifvertrag.

Friedenspflicht:

Während der Laufzeit eines Tarifvertrags gilt – für die in diesem Tarifvertrag geregelten Gegenstände – die Friedenspflicht. Nach geltender Rechtsprechung sind dann Arbeitskampfmaßnahmen unzulässig.

Kalte Aussperrung:

Eine kalte Aussperrung ist gegeben, wenn Arbeitnehmer, die außerhalb eines im Arbeitskampf befindlichen Tarifbezirks als mittelbare Folge eines Streiks oder einer Aussperrung in einem anderen Betrieb (Zulieferer oder Abnehmer) von ihrem Arbeitgeber ausgesperrt werden.

Koalitionsfreiheit:

Unser Grundgesetz legt in Artikel 9, Absatz 3, die Koalitionsfreiheit fest: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.“ Demnach können sich die Beschäftigten in Gewerkschaften zusammenschließen, für bessere Arbeitsbedingungen Tarife aushandeln und dafür kämpfen – bis hin zum Streik. Diese gewerkschaftlichen Rechte entsprechen internationalen Standards.

Kurzarbeitergeld:

Es wird Arbeitnehmern in Betrieben gewährt, wenn ein vorrübergehender, unvermeidbarer Arbeitsausfall eintritt, der auf wirtschaftlichen Ursachen oder auf einem unabwendbaren Ereignis beruht. Durch den Arbeitsausfall muß sich das Entgelt im jeweiligen Kalendermonat für mindestens ein Drittel der im Betrieb oder kurzarbeitenden Abteilung beschäftigten Arbeitnehmer um mehr als 10 Prozent vermindern. Das Kurzarbeitergeld, ein teilweiser Lohnersatz, soll den Arbeitnehmern die Arbeitsplätze und den Betrieben die eingearbeiteten Arbeitnehmer erhalten.

Schlichtung:

Für die Metall- und Elektroindustrie der Bundesrepublik Deutschland (West) gilt eine Schlichtungsvereinbarung, die 1979 von der IG Metall, von Gesamtmetall und den Metall-Arbeitgeberverbänden unterzeichnet worden ist. Scheitern die Tarifverhandlungen, können Gewerkschaften oder Arbeitgeber die Schlichtung anrufen. Die andere Seite muß sich nicht auf die Schlichtung einlassen. In der Schlichtungskommission sind die Tarifparteien gleich stark vertreten, den Vorsitz führt ein neutraler Schlichter (es können auch zwei sein). Die Schlichtung ist die letzte Chance, um sich vor einem Arbeitskampf zu einigen. Während eines Arbeitskampfes kann eine besondere Schlichtung angerufen werden. Eine Zwangsschlichtung besteht nicht.

Streik:

Weigern sich die Arbeitgeber, die Tarifforderungen der Beschäftigten nach besseren Arbeitsbedingungen und höheren Einkommen zu erfüllen, bleibt den Gewerkschaften als letztes Mittel – nach Ablauf der Friedenspflicht – der Streik. Der Streik ist eine kollektive Arbeitsniederlegung, um Forderungen der Arbeitnehmer durchzusetzen. Während des Streiks hat der Streikende keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Er erhält von seiner Gewerkschaft – wenn es ein Streik nach einer Urabstimmung ist – eine satzungsgemäß festgelegte Streikunterstützung.

Streik-Ende:

Das nach einem Arbeitskampf gefundene Ergebnis wird den IG Metall- Mitgliedern des Tarifbezirks in einer zweiten Urabstimmung vorgelegt. Wenn mehr als 25 Prozent der Abstimmungsberechtigten dem Ergebnis zustimmen, ist der Arbeitskampf beendet.

Streikunterstützung:

Ihren Mitgliedern zahlt die IG Metall – wenn der Vorstand den Streik nach einer Urabstimmung beschlossen hat – eine Streikunterstützung. Die Mitglieder müssen bei Beginn der dem Streik vorausgehenden Urabstimmung der IG Metall mindestens drei Monate angehören und während dieser Zeit satzungsmäßige Beiträge gezahlt haben.

Tarifautonomie:

Aus der im Grundgesetz garantierten Koalitionsfreiheit folgt das Recht von Gewerkschaften und Arbeitgebern, Tarifverträge über Entgelte und Arbeitsbedingungen abzuschließen: Diese Tarifautonomie garantiert, daß sich Staat und Politik nicht einmischen dürfen.

Tarifvertrag:

Die schriftliche Vereinbarung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern über Einkommens- und Arbeitsbedingungen wird Tarifvertrag genannt. Die beiden Tarifvertragsparteien legen hier Rechte und Pflichten fest, die während der Laufzeit des Tarifvertrages zwingend und unmittelbar gelten. Diese Tarifnormen, die nur für Gewerkschaftsmitglieder gelten, dürfen nicht zum Nachteil der Beschäftigten unterschritten werden. Man unterscheidet verschiedene Tarifvertragsarten (unter anderem Entgelt-, Rahmen- und Manteltarifverträge).

Tarifvertragsgesetz:

Es regelt in 13 Paragraphen die formalen Grundlagen des Tarifsystems u. a. zu folgenden Aspekten: Inhalt und Form des Tarifvertrages, Tarifvertragsparteien, Wirkung der Tarifnormen, Allgemeinverbindlichkeit, Tarifregister, Übersende- und Mitteilungspflicht der Tarifparteien, Bekanntgabe des Tarifvertrages.

Tarifvertragsparteien:

Das sind auf der Seite der Arbeitnehmer nur die Gewerkschaften. Bei den Unternehmern kann es eine Arbeitgebervereinigung oder ein einzelner Unternehmer sein – sie alle sind tariffähig.

Urabstimmung:

Ein unbefristeter Streik nach der Satzung der IG Metall ist möglich, wenn die Gewerkschaft ihre Mitglieder vorher darüber befragt hat – in einer geheimen Urabstimmung. Dort müssen sich mehr als 75 Prozent dafür aussprechen. Das Verhandlungsergebnis nach einem Streik ist in einer zweiten Urabstimmung vorzulegen.

Warnstreik:

Warnstreiks sind kurze Arbeitsniederlegungen, mit denen die Gewerkschaftsmitglieder ihre Kampfbereitschaft für die von ihnen erhobenen Forderungen demonstrieren. Sie wollen damit begrenzten Druck auf die Arbeitgeber ausüben, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Tarifautonomie braucht starke Gewerkschaften